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Aktuelle
arbeitsgerichtliche Entscheidungen
1a
1. Unterscheidung zwischen zuschlagspflichtiger Überstunden
und nicht zuschlagspflichtiger Mehrarbeit vom BAG bestätigt.
Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner Entscheidung vom
15.10.2021 für eine Klinikmitarbeiterin die unsägliche
Unterscheidung zwischen zuschlagspflichtigen Überstunden und
nicht zuschlagspflichtiger Mehrarbeit von
Teilzeitbeschäftigten leider bestätigt (§ 7 Abs. 6 TVöD-K).
Lediglich der überkomplizierte § 7 Abs. 8 c TVöD-K wurde
gekippt. Das heißt für Wechselschicht oder sonstige
Schichtarbeiten gibt es keinen Überstundenzuschlag mehr für
sog. ungeplante zusätzliche Stunden. Eine ärgerliche
Entscheidung.
2a
2. Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der
Vergütungsordnung endet beim Mindestlohn.
In einer Entscheidung vom 27.04.2021 hat das BAG (1 ABR
21/20) den Betriebsparteien Auswirkungen des
Mindestlohngesetzes einer Regelungsbefugnis zu § 87 Abs. 1
Nr. 10 BetrVG entzogen. Betriebsräte, welche
Vergütungsordnungen regeln und die Erfahrung machen, dass
die untersten Lohngruppen vom Mindestlohn eingeholt werden,
haben keinen hieraus resultierenden Anspruch, dass die
Vergütungen der anderen Arbeitnehmergruppen entsprechend
angepasst, also erhöht werden. Die entsprechende Dynamik
kann, so das BAG, nur dadurch gesichert werden, dass
entsprechende dynamische Klauseln in eine
Betriebsvereinbarung ausdrücklich aufgenommen werden.
3a
3. Fahrradkuriere müssen vom Arbeitgeber ein
verkehrstüchtiges Fahrrad und ein internetfähiges
Mobiltelefon gestellt erhalten.
Die allerorts aus dem Boden sprießenden Fahrradlieferfirmen
werden das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts
(19.02.2021 – 14 Sa 306/20) vermutlich genau studiert haben.
Im Zweifel muss der Arbeitgeber nicht nur ein
verkehrstüchtiges Fahrrad, sondern auch ein internetfähiges
Mobiltelefon stellen. Der Kurier kann auf die Stellung der
Arbeitsmittel klagen und kann nicht auf die
entgegenstehenden Vertragsbedingungen verwiesen werden. Die
typischen Vertragsbedingungen, wonach all die Gerätschaften
vom Arbeitnehmer gestellt werden müssen, benachteiligen den
Arbeitnehmer nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unangemessen, so das
Hessische Landesarbeitsgericht. Eine begrüßenswerte
Entscheidung.
4a
4. Ärztlicher Hintergrunddienst ist häufig statt
Rufbereitschaft an sich höher zu vergütender
Bereitschaftsdienst.
Ärztlicher Hintergrunddienst kann statt Rufbereitschaft auch
Bereitschaftsdienst sein und ist damit höher zu vergüten.
Das BAG hatte (25.03.2021 – 6 AZR 264/20) klargestellt, dass
bei einer engen zeitlichen Reaktionsvorgabe zwischen Abruf
und Aufnahme der Tätigkeit und einer de facto hieraus
resultierenden Aufenthaltsbeschränkung der harmlos als
Hintergrunddienst bezeichnete telefonische
Bereitschaftsdienst tatsächlich wie Bereitschaftsdienst
vergütet werden muss und nicht wie die deutlich geringer
vergütete Rufbereitschaft.
1.
5. Unbezahlte Überstunden und fehlende Arbeitszeiterfassung
Wer schon einmal Überstunden einklagte, wird bemerkt haben,
wie schwierig es ist, zu seinem Recht zu gelangen.
Erleichterung zeichnet sich infolge der Entscheidung des
EuGH vom 14.05.2019 – C-55/18 ab.
Der EuGH verlangt ein Arbeitszeiterfassungssystem. Fehlt ein
solches System, gilt für den Arbeitnehmer eine
Beweiserleichterung und es erfolgt eine Beweislastumkehr.
Das Arbeitsgericht Emden (20.02.2020 – 2 Ca 94/19)
entschied, wer Überstunden und Arbeitszeit geltend macht,
kann sich auf eigene Aufzeichnungen zum Beleg berufen. Die
eigenen Notizen genügen, wenn der Arbeitgeber kein
Arbeitszeiterfassungssystem eingerichtet hat. Nur ein
Arbeitszeiterfassungssystem, das objektiv und verlässlich
die Daten erhebt und für den Arbeitnehmer zugänglich ist,
erfüllt die Anforderungen.
Objektiv ist ein Arbeitszeiterfassungssystem, wenn dieses es
dem Arbeitnehmer ermöglicht, die geleistete Arbeitszeit mit
Hilfe der Aufzeichnungen nachzuweisen. Verlässlich ist ein
solches System nur dann, wenn Manipulationen ausgeschlossen
sind. Zugänglich ist ein solches System nur dann, wenn der
Arbeitnehmer zur Durchsetzung seiner Rechte auf die
Dokumente und Daten im Bedarfsfall als Beweismittel
zugreifen und nutzen kann.
Wer sich seine Arbeitszeiten also persönlich genau notiert,
hat gute Chancen, die Bezahlung von Überstunden mit Erfolg
durchzusetzen, wenn der Arbeitgeber kein
Zeiterfassungssystem hat.
2.
6. Versetzung nach AVR-Caritas
Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (vom 05.11.2019 – 8
SR 28/19) hatte die Versetzung eines Mitarbeiters an einen
anderen Arbeitsort unter der Geltung der AVR des Deutschen
Caritasverbands zu überprüfen. Es hat klargestellt, dass es
einer sozialen Auswahl wie z. B. bei einer betriebsbedingten
Kündigung bei einer Versetzung nicht bedarf. Auch muss der
Arbeitgeber nicht stets das mildeste Mittel wählen und ist
auch nicht verpflichtet, stets den optimalen Ausgleich
zwischen den Interessen des Arbeitnehmers und den
Arbeitgeberinteressen zu suchen. Erst dann, wenn es sich dem
objektiven Betrachter aufdrängt, dass die Maßnahme deutlich
über das Ziel hinausschießt, also den Mitarbeiter sozusagen
unnötig belastet, kann sie gegen billiges Ermessen verstoßen
(§ 106 S. 1 GewO, § 315 BGB). Das heißt obwohl der Kläger
des erwähnten Verfahrens nunmehr einen 30 km längeren Weg
zur Arbeit hat und sich sogar aufgrund der besonderen
Bereitschaftsdienstregelung in der anderen Einrichtung seine
Vergütung verkürzt, war die Versetzungsentscheidung nicht zu
beanstanden.
3.
7. Außerordentliche Kündigung bei vorsätzlich falsch
ausgefüllten Formularen zur Erfassung von Überstunden
Das BAG hat (13.12.2018, 2 AZR 370/18) klargestellt, dass
derjenige, der sich großzügig Überstunden aufschreibt, die
er tatsächlich nicht geleistet hat, „an sich“ einen
wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung liefert. Der
Arbeitnehmer, dem eine Zulage gekürzt worden war, was er als
ungerecht empfand, wurde durch seinen Vorgesetzen und eine
Mitarbeiterin der Personalverwaltung ermutigt, sich durch
das Aufschreiben von Überstunden eine Kompensation zu holen.
Das BAG hat klargestellt, dass trotz einer solchen
Konstellation der Arbeitnehmer sich keinesfalls auf einen
Rechtsirrtum berufen könne. Die Pflichtwidrigkeit musste
klar sein. Er hätte, wenn er der Überzeugung war, dass ihm
seine Zulage zu Unrecht genommen wurde, den Rechtsweg
beschreiten müssen. Auch ging es nicht um ein einmali-ges
Fehlverhalten, sondern um einen Zeitraum von fünf Jahren.
4.
8. Nichtverlängerungsmitteilung – Altersdiskriminierung
Das BAG (20.03.2019, 9 AZR 237/17) erachtete eine
Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsvertrags als
Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot wegen des Alters (§
7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG). Im konkreten Fall hatte ein
Theater drei der ältesten Tanzgruppenmitgliedern gegenüber
eine sog. Nichtverlängerungsmitteilung ausgesprochen. Damit
sprach eine starke Vermutungswirkung (§ 22 AGG) für eine
Benachteiligung aufgrund des Alters.
5.
9. Außerordentliche Kündigung und Unterrichtung der
Mitarbeitervertretung
Das BAG hat (22.10.2015 – 2 AZR 650/14) klargestellt, dass
der Dienstgeber im Rahmen der MAVO (§ 30 Abs. 1, § 31 Abs.
1) seiner Mitteilungspflicht an die Mitarbeitervertretung
genügt, wenn er dieser seine subjektiven Beweggründe, die
zum Ausspruch der Kündigung führen sollen, darlegt
(subjektive Determination). Hierfür muss der Dienstgeber
nicht alle erdenklichen, sondern nur die für ihn
maßgeblichen Kündigungsgründe mitteilen. Die
Mitteilungspflicht reicht auch nicht so weit wie die
Darlegungslast im möglichen sich anschließenden
Kündigungsschutzprozess. Es genügt, dass der Dienstgeber den
Kündigungsgrund unter Angabe von Tatsachen so beschreibt,
dass die Mitarbeitervertretung ohne zusätzliche eigene
Nachforschungen eine sachgerechte Stellungnahme abgeben
kann. Keinesfalls genügen lediglich pauschale Angaben oder
Mitteilungen eines Werturteils. Die Rechte der MAV gehen
also nicht weiter als jene eines Betriebsrats. Denn auch
hier gilt der Grundsatz der subjektiven Determination.
6.
10. Eine Betriebsvereinbarung, die nur wirksam wird, wenn die
Belegschaft zustimmt, ist rechtswidrig und unwirksam.
Die normative Wirkung einer Betriebsvereinbarung (BV) darf
nicht von einem Zustimmungsquorum der Belegschaft abhängig
gemacht werden (BAG vom 28.07.2020 – 1 ABR 4/19). In der BV
war festgelegt, dass diese nur dann in Kraft treten soll,
wenn 80 % der Belegschaft zustimmt. Da der Betriebsrat
Repräsentant der Belegschaft ist und plebiszitäre Elemente
dem Betriebsverfassungsgesetz fremd sind, auch kein
imperatives Mandat durch den Betriebsrat wahrgenommen wird,
hat das BAG klar die Wirksamkeit einer solchen
Betriebsvereinbarung verneint. Es ging sogar so weit, die
komplette Betriebsvereinbarung damit für unwirksam zu
erklären. Argument: eine Teilunwirksamkeit kommt hier nicht
in Betracht, da das Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung
von einer inhaltlich unwirksamen Teilregelung bestimmt war.
Wer also ein Quorum der Belegschaft bemühen will, muss mit
dem Konstrukt der Regelungsabrede und individualrechtlicher
Übernahmen solcher Vereinbarungen andere Wege gehen, als die
einer normativ und zwingend geltenden Betriebsvereinbarung.
Sind sich die Betriebsparteien einig, können derlei
Unsicherheiten natürlich auch nachträglich durch Abänderung
der Betriebsvereinbarung und individuelle Vereinbarungen
geheilt werden.
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